Die tränenweinenden Reben sind ein einzigartiges Naturschauspiel, welches sich jährlich im Frühling mit den ersten steigenden Temperaturen bei den offenen Schnittstellen an den Rebstöcken wiederholt. Mit den wärmeren Temperaturen kommt die Rebe aus ihrer Winterruhe und der Stock beginnt wieder zu leben. Als erstes lässt er seine vitalen Pflanzensäfte aus den Wurzeln in den Stock aufsteigen, um der Rebe mit der nährstoffreichen Flüssigkeit wieder Leben einzuhauchen. Gleichzeitig beginnen die Augen langsam anzuschwellen. Zugleich erreicht der Pflanzensaft die Fruchtruten, wo er dann an den Schnittstellen während einer bestimmten Zeit austritt.
Schon von den alten Gelehrten wurde diese Flüssigkeit als Lachryma vitis («Träne der Reben») bezeichnet. Es ist dokumentiert, dass die Lachryma vitis in früheren Zeiten sogar aufgefangen und als Heilmittel verwendet wurde. Für die Rebe hat das Weinen durchaus seinen vegetativen Sinn und auch einen schützenden Zweck. Die ausgeschiedene Flüssigkeit wehrt Bakterien ab, die allenfalls über die offene Wunde in den Weinstock eindringen könnten. Zugleich versiegelt diese Flüssigkeit die offene Wunde mit Harz, welches aus dem Rebwasser gebildet wird. Was somit wie ein tropfender Wasserhahn aussieht, ist nichts anderes als das sichtbar gewordene Immunsystem eines Weinstocks.
Immer wieder stellt sich die Frage, was für eine Flüssigkeit eigentlich produziert wird. Vor bald 30 Jahren gingen vier Forscher am Wiener Institut für pharmazeutische Chemie dieser Frage nach. Dabei analysierten und untersuchten sie die ausgeschiedene Flüssigkeit mittels Gaschromatographie. Das Ergebnis: 32 Inhaltsstoffe wie Cineol, alpha-Terpineol oder Thymol sind gefunden worden. Es sind hochwirksame Bio-Aktivstoffe mit antibakteriellen und desinfizierenden Eigenschaften. Allerdings konnte die Frage mit Blick auf weitere Inhaltsstoffe nicht gänzlich beantwortet werden, denn ein gewisser Anteil des Rebwassers konnte nicht identifiziert werden. Die genaue Zusammensetzung bleibt ein Geheimnis, das also auch tausende Jahre nach der Entdeckung noch nicht gelüftet ist.
Einst als Heilmittel genutzt
Schon vor über 2000 Jahren beschäftigte dieser geheimnisvolle Fluss zum Start der Vegetation die Menschheit und Wissenschaft. Aktenkundig wurden dabei die Römer. Sie liessen sich von den wundersamen Tränen ihrer Pflanzen faszinieren. Sie haben die Flüssigkeit aufgefangen, untersucht, sie gar gekostet und ihre entsprechenden Beobachtungen zur medizinischen Wirksamkeit über Jahre hinweg niedergeschrieben. Einer dieser frühzeitlichen Forscher war Plinius Secundus, der von 23 bis 79 n.Chr. lebte. Er hat dem Rebwasser eine heilende Wirkung gegen Hautkrankheiten zugeschrieben.
In der Fachliteratur lassen sich weitere Personen finden, welche sich mit dem geheimnisvollen Saft beschäftigten. Hildegard von Bingen empfahl mehr als 1000 Jahre später die Anwendung des Rebwassers bei Augenleiden oder Zahnschmerzen. Die erste kosmetische Verwendung hingegen ist auf das Jahr 795 zurückdatiert. In einem Rezept im Lorscher Arzneibuch war das Rebwasser Bestandteil einer Salbe für die Haut. Das Anwendungsgebiet war in jedem Fall sehr breit. Es reicht von der Stärkung des Magens bis hin zur Bekämpfung neurodermitischer Haut. Entsprechend wurde das Rebwasser auch als Wundermittel gegen kleine Wehwehchen, aber auch bei ernsthaften Erkrankungen verwendet. Doch das Wissen um die Tränen des Weinstocks rückte allmählich in den Hintergrund und beinahe in Vergessenheit. Schliesslich verschwand es fast gänzlich aus der Sammlung alter Hausmittel. Dies hat sich jedoch im Laufe der wieder Geschichte geändert. Das einst fast mystische Rebwasser wird nun immer wieder «neuentdeckt» und mit den wachsenden Möglichkeiten auch wissenschaftlich untersucht.
Gemäss verschiedener Quellen der Volksgläubigkeit werden dem Rebwasser nach wie vor gewisse heilende Wirkungen nachgesagt. So soll es gegen Warzen helfen, zudem unterstütze es während der Schwangerschaft Kopf, Magen, Darm, Niere und Blase. Weiter wird dem Rebwasser heilende Wirkung gegen Brechreiz zugesprochen. Zugleich ist die Rede von einer Wirkung gegen Sommersprossen und nicht bewältigte Schrecken. Auch kann es den Zahnschmerz nehmen und habe eine vitale Wirkung für Haut, Augen und Ohren – kann aber auch gegen Haarwuchs wirken.
Weiter ist auch die Rede vom Einsatz als möglichen «Anti-Alkoholicums». Dies geht auf Aufzeichnungen des Colmarer Stadtarztes Johann Jacob Wecker (1528 -1586) zurück. Um den schädlichen Alkoholkonsum insbesondere mit Wein einzudämmen, riet er dazu, das Rebwasser in den Wein zu mischen und diesen den «Weinsaufenden» unwissentlich zum Trinken zu geben. «So vergodt inen der Lust zu dem Wein und fragen jm nichts mher nach», lässt sich der Stadtarzt zitieren.
Das «Weinen der Reben» in der Kunst
Auch die dichtende Kunst liess sich von der weinenden Rebe inspirieren.
«Tränen weint die arme Rebe,
und der Lenz bracht doch heran.
Arme, hat der schlimme Winter
dir ein Leid wohl angetan?
Nicht vor Schmerzen, spricht die Rebe,
wein' ich, nein von Lust bewegt,
weil ich fühle, wie die Blüte
sich in meinem Innern regt.
Tränen weinet eine Mutter,
die auch Wonnetränen sind,
die zum ersten Male fühlet
in sich ihrer Liebe Kind.»
Justinus Kerner (1768 - 1862)