Grand Prix du Vin Suisse: Der Versuch einer Interpretation
Die 17. Austragung des nationalen Weinwettbewerbs Grand Prix du Vin Suisse (GPVS) ging anfangs Oktober mit grossem Getöse und vielen hundert geladenen Gästen in Bern über die Bühne. Wie schon in früheren Jahren gewannen die Walliser Produzierenden mehr als die Hälfte der Kategorien. Die anderen mussten sich um den Rest streiten. Warum das so ist und was sich allenfalls dagegen tun lässt, soll im Folgenden erläutert werden.
Jeder, der schon mal unvorbereitet mit der Seilbahn vom Tal auf über 3000 Meter Höhe fährt, spürt es: Die Luft da oben ist dünn. Sehr dünn. Und wenn man es nicht gewohnt ist, spürt man folglich die Lunge rasseln und das Herz klopfen. Im übertragenen Sinne geht es auch den «Üsserschwiizer»-Weinen so, wenn sie sich beim GPVS der Walliser Übermacht stellen möchten. Denn Letztere sind die Höhe gewohnt. Und fällt einer von ihnen entgegen den Erwartungen mal erschöpft nach hinten, kommt sogleich ein anderer und füllt die Lücke aus. Was also sind die Schlüsse, die man aus der 17. Ausgabe des nationalen Weinwettbewerbs ziehen kann? Und wie könnte die Deutschschweizer Weinelite der nationalen Meisterschaft zusätzliche Glanzlichter bescheren? Eine Analyse der Details kann hier Licht ins Dunkle bringen und auch taktische Überlegungen anstossen.
Gestiegene Anzahl Anmeldungen
Gegenüber dem letzten Jahr und wohl auch eine direkte Folge des guten und reichlichen 2022er-Jahrgangs konnten die Verantwortlichen des GPVS – die Vereinigung Vinea und die Weinzeitschrift Vinum – die erfreuliche Anzahl von 2740 Weinen vermelden. Das sind fast 400 mehr als im Jahr zuvor. Ähnlich wie schon in den Vorjahren blieb die Dominanz der Walliser Produzierenden ungebrochen. Sie gewannen insgesamt 8 von 15 Kategorien. Der flächenmässig zweitgrösste Weinkanton Waadt schnitt mit einem Kategoriensieg vergleichsweise schlecht ab, am besten in Bezug auf die Fläche gingen die Neuenburger mit zwei Siegen hervor. Genau gleich gut wie im letzten Jahr schnitten die Deutschschweizer mit zwei Kategoriensiegen ab. Jener in der Sparte Müller-Thurgau konnte erwartet werden (Sieger war hier der Siblinger 2022 von GVS Schachenmann), der andere in der Kategorie Chardonnay mag eher überraschen (Maienfelder 2021 von Salis), zumal eine deutlich grössere Anzahl von Mustern aus anderen Landesteilen eingegangen war. Gerechnet auf die summierte Fläche von 2660 ha und die Breite an Spezialitäten aber erscheint die Ausbeute für die Deutschschweiz doch eher klein. Ohne polemisch wirken zu wollen, darf durchaus hinterfragt werden, ob die anderen Landesteile z.B. in der Kategorie Pinot noir wirklich so viel bessere Weine herstellen als die Deutschschweizer. Auch bei den reinsortigen Weissen (ohne Müller-Thurgau und Chardonnay) gibt es in vielen Kantonen östlich des vielzitierten Röstigrabens eine breite Palette von Weinen, die nationales Format besitzen. Zu nennen sind etwa die weissen Burgundersorten (Grau- und Weissburgunder sowie Sauvignon blanc), dann die Familie an Muskatellervarietäten oder auch Piwi-Weine wie Johanniter, Souvignier gris und Solaris. Erst recht unterbewertet scheinen autochthone Spezialitäten wie Räuschling und Completer zu sein, die selbst von internationalen Fachleuten hoch bewertet werden. Wieso also befinden sich diese Weine nicht im Wettbewerb oder konnten nicht reüssieren?
Auswahlprozedere
Der eine Teil der Antwort liegt beim Auswahlprozedere. Um nominiert zu werden (also unter die sechs besten Weine pro Kategorie zu kommen), muss jeder Wein zuerst eine Goldmedaille erhalten. Um dies zu erreichen, braucht es am Verkostungstisch bereits eine grosse Einigkeit über die Güte und eine kleine Standardabweichung. Hernach muss der Wein auch der Headjury gefallen, die einige Wochen nach der offiziellen Bewertungsrunde nochmals zusammenkommt und ihre Entscheidungen fällt. Dieses siebenköpfige Gremium stellt letztlich die Gewinner aufs Prodest.
«Les absents ont toujours tort!»
(Die Abwesenden liegen immer falsch)
Der andere Teil der Antwort liegt am Umstand, den ein schönes französisches Bonmot treffend zusammenfasst: «Les absents ont toujours tort» (Die Abwesenden liegen immer falsch). Wer also nicht mitmacht, muss sich nicht wundern, wenn er nicht gewinnt.
Doch ganz so einfach ist es eben auch nicht. Denn viele namhafte Weinproduzentinnen und -produzenten haben gar kein Interesse, noch lauter auf sich aufmerksam zu machen. Sie haben ohnehin schon zu wenig Wein, um die Nachfrage zu befriedigen. Das trifft vornehmlich auf Spitzenweingüter zu. Wieder andere machen auch deshalb nicht mit, weil sie andere Wettbewerbe bevorzugen (z.B. Expovina, AWC-Vienna, Mundus Vini etc.). Denn Hand aufs Herz: Den Konsumentinnen und Konsumenten ist es häufig einerlei, welche Goldmedaille den Wein ziert. Hauptsache, er hat eine. Somit stellt sich die Frage der Beteiligung aus einem anderen Blickwinkel. Und wieder ist Differenzierung angesagt: Ein Blick auf die genauere Verteilung (Tab.) gibt mehr Aufschluss. Fast logischerweise erhöht sich die Chance auf Podestplätze für eine Region, wenn die Anzahl Weine hoch ist. Wie angetönt, war dies beim Müller-Thurgau der Fall. Hier stammten alle sechs nominierten Weine aus der Deutschschweiz, weil in der Romandie alle auf Chasselas setzen und im Tessin der Merlot bianco höher im Kurs steht. Wie sehen die anderen Siegerkriterien aus?
Siegerkriterien
Bei den reinsortigen Weissen wie auch beim Pinot noir war die Ausbeute an Silber- und Goldmedaillen der Deutschschweiz durchaus beachtlich, aber im Endeffekt konnte sich kein Wein unter die ersten Drei platzieren. Der Grund hierfür lag somit zumeist am «Momentum», diesem allen Degustationen innewohnenden, komplexen Prinzip des Zufalls: An welcher Stelle und mit welchen Konkurrenten wird der Wein verkostet? Wer sitzt am Jurytisch und hat welche Vorlieben? Und welches Verfahren wird bei Punktgleichheit angewandt?
Dieses Jahr gewann ein Pinot aus Neuchâtel (Cave des Lauriers, Cressier). Im Jahr zuvor obsiegte nach 2019 bereits zum zweiten Mal das Weingut Gehring aus Teufen (ZH), davor einer aus dem Wallis (C. Varonier & Söhne, Varen) und vor drei Jahren ebenfalls einer aus Neuchâtel (Domaine des Landions, Colombier). Der Schluss liegt nahe, dass in dieser Kategorie alle gewinnen können. Somit gilt: Für Neueinsteiger ist diese Kategorie nicht so empfehlenswert, da hier schon ein grosser Wettbewerb herrscht.
Anders sieht es bei reinsortigen Roten aus. Hier lauert Überraschungspotenzial: Der Malbec Hallau Réserve (GVS Schachenmann) wurde hinter einem Cornalin (Cave Adamare, Salgesch) zweiter. Weil die Beteiligung der Deutschschweizer Winzer eher schwach ist, hätten spannende Weine durchaus Chancen, die Walliser Phalanx zu durchbrechen.
Dasselbe gilt für die roten Assemblagen. Auch hier spielt die Deutschschweiz eine marginale Rolle (7 Medaillen auf 72 Weine), dennoch schaffte es einer in die Nominiertenliste (Passionato Barrique von Nauer (AG) – eine Cuvée aus Merlot, Cabernet Sauvignon, Malbec und Syrah). Auch bei den weissen Cuvées dasselbe Bild: Die Cuvée d’Or des Weinguts Wetli in Männerdorf (ZH), eine Assemblage aus Sauvignon blanc und Cabernet blanc, konnte den dritten Platz ergattern, obschon die Deutschschweizer Weine nur 7 von 33 Medaillen (Gold wie Silber) holten.
Mit anderen Worten lechzen Degustierende zwischendurch nach Mustern, die aus der Normalität herausragen und Genüsse vermitteln, die nicht schon dutzendfach vorhanden sind. Die andere Seite dieser Medaille: Eine zu grosse Abweichung vom eintrainierten Normalfall könnte auch abweisende Wirkung evozieren. Da die Mehrheit der Verkoster Westschweizer bzw. Walliser Winzerinnen und Winzer sind, dürfte es eine in der Westschweiz bekannte Mischung (z.B. Bordeaux-Cuvée) einfacher haben als eine ihnen fremde Kombination (z.B. eine Piwi-Kombi aus Maréchal Foch und Cabernet Jura).
Besonders vielversprechend scheint die Ausgangslage bei den Schaumweinen zu sein. Erstens erhielt nur eine überschaubare Anzahl Schaumweine eine Medaille. Dennoch schafften gleich beide Goldmedaillengewinner aus der Deutschschweiz den Sprung zu den Nominierten. Der Petit Rhin Brut des Weinguts Diederik aus Küsnacht (ZH) wurde schliesslich Dritter (Einstiegsbild: Didi Michel, Weingut Diederik, hält seine Trophäe in der rechten Hand). Mit anderen Worten besteht hier die Chance, mit gelungenen «Schäumern» zu punkten.
GPVS 2024
Nach dem Grand Prix ist vor dem Grand Prix. Bereits sind die meisten Trauben des 2023ers gelesen und verarbeitet. Landauf, landab ist von einer guten bis sehr guten Qualität und einer erfreulichen Menge die Rede. Folglich stehen die Weichen für Deutschschweizer Weingüter gut, dass sie im kommenden Jahr mit hervorragenden Tropfen aufwarten können. Was also spräche dagegen, sich an jenem Weinwettbewerb zu beteiligen, der am ehesten die Qualität einer Schweizer Meisterschaft erreicht? Wenn nun auch die Verantwortlichen bei der Besetzung der Jury-Gruppen darauf achten, eine gute Durchmischung zu erreichen, sollte eine markante Steigerung der Deutschschweizer Präsenz in den vorderen Rängen verschiedener Kategorien möglich sein. Aber eben, nur die, die mitmachen, haben Chancen, etwas zu erreichen.