Liebe Leserin, lieber Leser
Es ist önologische Praxis, den Trauben zur Verbesserung der Gesamtqualität Zucker (Saccharose) zur Gärung beizugeben. Chaptalisieren nennt sich das in der Fachsprache. Bis 2020 war es in der Schweiz erlaubt, eine Anreicherung von umgerechnet 2.5 Vol.-% durchzuführen, was rund 5 kg Zucker auf 100 L entspricht. Doch seit vier Jahren gilt die Handhabe der Europäischen Union: Nördliche Länder dürfen mehr chaptalisieren, südliche Länder (die in der Regel über genügend Sonne verfügen) weniger. Die Schweiz ist bekanntlich nicht in der EU, dennoch hat sie diese Vorgabe ab 2020 stillschweigend übernommen.
Und fataler noch: Das zuständige Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) hat sich selbst bzw. das Weinland Schweiz in die sogenannte Kategorie C eingeteilt, die nur eine maximale Aufbesserung von 1.5 Vol.-% zulässt. Dies analog zu Spanien und Italien. Nun läuten insbesondere bei Westschweizer Kantonen die Alarmglocken, denn eigentlich würde diese Regel bereits ab diesem Jahr gelten. Folglich verlangen sie gemeinsam mit dem Schweizerischen Weinbauernverband (SWBV) von der zuständigen Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider, subito über die Bücher zu gehen.
Mit Abstand betrachtet, mag dieses hastige Korrekturverlangen erstaunen. Abgesehen davon, dass weltweit der Trend zu tieferen Alkoholwerten besteht und dass die Klimaerwärmung die Oechslewerte nach oben treibt, muss die Frage gestellt werden, wo des Pudels Kern wirklich liegt? Und da stossen wir auf einen Umstand, den man nur mit dem unschönen Wort Protektionismus umschreiben kann. Denn es gibt nur eine Traubensorte, für die dieses Tamtam gemacht wird: den Chasselas. Wer regelmässig Höchsterträge einfahren möchte, gleichzeitig Masse über Klasse stellt, der braucht in schlechten Jahren die grosse Anreicherung. Dass der Ruf der Sorte darunter leidet, scheint die Verantwortlichen nicht zu stören. Die Deutschschweizer Winzerinnen und Winzer können den «Sturm im Weinglas» gelassen beobachten, dennoch wird es einige ärgern, dass die Westschweizer Funktionäre kraft ihrer puren Markt- macht einmal mehr den Schweizer Weinbau qualitativ schwächen.
Ihr
Markus Matzner
Chefredaktor O+W