© K. Keller

Tessiner Spirituosenspezialitäten

Anders als in der Deutschschweiz brennen im Tessin viele Winzerinnen und Rebbauern ihren Traubentrester selbst. Und im Unterschied zu den Kollegen aus der Deutschschweiz dürfen sie diesen als Grappa bezeichnen. Der Schutz von «Grappa Ticino DOC/DOP» lässt jedoch noch auf sich warten. Im Rahmen unserer Tessinserie haben wir die Brennerei Jelmini besucht.

Artikel von:
Kaspar Keller
Diesen Artikel finden Sie in der Ausgabe 14 / 2023 , S. 21

Das Tessin ist das Reich des Merlots. Doch dem flüssig-kulinarischen Erbe des Kantons wird nicht gerecht, wer sich nur auf den Wein, geschweige denn auf die eine Traubensorte fixiert. Der Südkanton hat eine Brenntradition, die einzigartig ist in der Schweiz. Zwar gibt es überall, wo Reben wachsen, Brände aus Traubentrester, doch nur in der italienischsprachigen Schweiz dürfen diese als Grappa verkauft werden – mit der Ausnahme von Italien, versteht sich. Es ist den bilateralen Verträgen zu verdanken, dass Schweizer Grappa eine Realität ist. Eine weitere Realität ist jedoch, dass dieser Schutz längerfristig alles andere als sicher ist. Aus diesem Grund haben die Tessiner Grappa-Produzierenden im Februar 2021 beim Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) ein Gesuch für eine Denominazione di Origine Protetta (DOP) eingereicht. Über den Inhalt des vorgeschlagenen Pflichtenhefts wollte das BWL jedoch keine Auskunft geben, da dies die «freie Meinungs- und Willensbildung (der zuständige Behörde, Anm. Verfasser) beeinträchtigen» könnte. «Wir gehen davon aus, dass die DOP frühstens in einem Jahr beschlossen wird», sagt Pierluigi Jelmini. Als Inhaber der grössten Brennerei des Kantons hat sich Jelmini aktiv an der Erarbeitung des Pflichtenhefts beteiligt, hielt sich mit Aussagen über dessen Inhalt jedoch ebenfalls zurück.

Das Tessin brennt anders

Während in Italien oft auch der Trester von aromatischen weissen Rebsorten zu Grappa «verschnapst» wird, verwertet man in der Schweiz primär rote Sorten. In den italienischsprachigen Tälern Graubündens wird zum grossen Teil der Nebbiolo-Trester aus dem Veltlin verarbeitet, im Tessin setzt man hingegen primär auf Merlot. Im Südkanton landen jedoch vielfach auch Americana-Trauben im Brennkessel. In diesem Fall spricht man jedoch selten von Grappa, da dafür meist die ganzen Trauben eingemaischt, fermentiert und anschliessend destilliert werden.

Neben dem Inhalt der Brennkessel gibt es auch bei den Brennkesseln selbst Unterschiede. Bei Jelmini sind zwei Brennhäfen mit 350-Litern und einer mit 220-Liter der Marke «Carl» aus dem Jahr 2003 im Einsatz. Diese werden via Dampfbad oder direktem Dampf erhitzt und verfügen über Rührwerke, damit der trockene Traubentrester nicht anbrennt. Rektifikationskolonnen ermöglichen eine einfache Destillation, wobei nur jene des kleineren Hafens direkt aufgesetzt ist.

Während der Saison ist zusätzlich der traditionelle Grappa-Brennhafen im Einsatz, den Pierluigi Jelmini in den 1990er-Jahren von der Brennerei Tettamanti in Morbio bei Chiasso übernehmen konnte. Dieses Modell verfügt über drei 160-Liter-Behälter (Abb. 1).

 

Abb. 1: Traditioneller Grappa-Brennhafen mit drei 160-Liter-Behältern. (© K. Keller)

 

Siebeinsätze sorgen dafür, dass der Wasserdampf den relativ trockenen Trester gleichmässig erwärmt und die Alkohole gelöst werden können. Ein regulierbares Röhrensystem verbindet die drei Behälter miteinander wie auch mit den zwei Rektifikationskolonnen. Ist der Mittellauf des ersten Behälters destilliert, leitet der Brennmeister dessen Nachlauf und den Wasserdampf in den zweiten Behälter. Während im zweiten Behälter gebrannt wird, kann der erste Behälter geleert und der dritte mit frischem Trester befüllt werden. Dank dieses Prinzips kann ein Grappa-Produzent quasi kontinuierlich brennen. Auch die fahrbare Brennerei, die vor der Brennerei steht, funktioniert nach dieser Methode. Beziehungsweise würde funktionieren, denn diese ist nicht mehr in Betrieb. Mit diesem Brennapparat aus dem Jahr 1912 ist vor der Übernahme durch Jelmini der Lohnbrenner Carlo Camponovo von Dorf zu Dorf gezogen (Abb. 2).

 

Abb. 2: Fahrbarer Brennhafen aus dem Jahr 1912. (© K. Keller)

 

 

Neue Generation packt an

Auch in Italien sind noch vergleichbare Brennhäfen im Einsatz – mit den Mengen, die von den grossen Grappa-Marken wie Poli, Nonino oder Nardini verarbeitet werden, können die Tessiner Produzenten jedoch nicht annähernd mithalten. Nardini allein soll in ihren zwei Brennereien in Bassano del Grappa und Monastier jährlich rund vier Millionen Flaschen Grappa herstellen.

Grappa macht rund 80 Prozent der Produktion der Brennerei Jelmini aus. «Während der Saison beginnen wir um 7 Uhr morgens und verarbeiten täglich rund 7500 Kilo Trester», sagt Federico Jelmini (Einstiegsbild). Der 22-Jährige steht schon seit jungen Jahren in der Distillerie seines Vaters und arbeitet dort derzeit nebenberuflich während seiner Ausbildung zum Winzer. Während Trester aus der Weisswein-Produktion vor der Destillation noch fermentiert werden muss, können die roten Trauben sofort verarbeitet werden. Im besten Fall werden sie das auch, denn nicht nur entweicht der Alkohol bei zu langer Lagerung, schädliche Mikroorganismen können den Trester verunreinigen, was sich im Destillat bemerkbar macht.

 

«Wir verarbeiten in der Saison täglich 7500 Kilo Trester zu Grappa.»

 

Als Lohnbrennerei brennt Jelmini auch die Spirituosen für Bisbino oder Terreni alla Maggia. Für die eigene Produktelinie experimentiert er mit der Fasslagerung seiner Grappas in Schweizer Eiche oder Falscher Akazie (Robinie) aus dem Tessin. Gebaut werden die Fässer von der Küferei Suppiger in Küssnacht am Rigi.

Grappa wird traditionell im oder zum Kaffee beziehungsweise als Digestiv genossen. Im Tessin verwendet man den Tresterbrand jedoch auch als Basis für eine weitere Spezialität: Nocino – teilweise auch als Ratafià bezeichnet. Für den dunkelbraunen Nusslikör (der auch in Norditalien und den französischen Alpen hergestellt wird) werden traditionell in der Johannisnacht vom 23. auf den 24. Juni grüne, unreife Baumnüsse geerntet, zerteilt und zusammen mit Grappa, Gewürzen und Zitrusfrüchten in einen Glasbehälter gefüllt. Diesen stellt man während vierzig Tagen an einen sonnigen Platz und rührt die Mischung regelmässig um. Teilweise werden die Gewürze ein zweites Mal mit Merlot für den sogenannten Nocino Doppio angesetzt.

Zwar führen auch professionelle Anbieter Nocino im Sortiment, viele Haushalte mit einem eigenen Nussbaum im Garten stellen den Likör selbst seit Generationen nach Familienrezept her. Yves Branchi gehört zu einer jungen Generation von Nocino-Produzenten, die dem Likör ein neues Gesicht verpassen wollen. Sein Noos Nocino hat massgeblich dazu beigetragen, dass die Tessiner Spezialität nun auch in Cocktailbars in der Deutschschweiz eingesetzt wird.

Rund 50 Dorfbrennereien

Neben Pierluigi Jelmini brennen im Tessin auch Wittwer in Biasca und Delea in Losone im grösseren Stil. Doch was die Tessiner Brennkultur von der restlichen Schweiz abhebt, sind die als Consortio organisierten Brennereien. In diesen – es gibt sie in gefühlt jeder zweiten Gemeinde – brennen die Spirituosenproduzenten jeweils selbst. Auch hier werden primär Trauben- und Tresterbrände destilliert, wobei vereinzelt auch Birnen, Kirschen, Zwetschgen, selten auch Kaki gebrannt werden. Ob die Gerüchte stimmen, wonach das BAZG (Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit) in den als Consorzio organisierten Brennereien tatsächlich so weit weg ist, wie man hört – darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden.

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