Wurzelechte Höhenweine in Bolivien – ein einzigartiges Kulturgut
Die Rebe gehört zu den Lianengewächsen. Logischerweise würde sie am liebsten an Bäumen emporwachsen. Mit der modernen Erziehung domestizierte der Mensch die Rebe. Doch in Bolivien gibt es noch Baum-Weingärten, die ein einmaliges Kulturerbe darstellen. Hobbywinzer David Gut hat sie besucht.
«Es war Liebe auf den ersten Blick»
María José Granier (Abb. 1) ist Eigentümerin und Gründerin der Boutique-Weinmarke «Jardín Oculto». Bereitwillig gibt sie Auskunft über ihre Tätigkeit und Beweggründe.
Abb. 1: María José Granier hat gut lachen, sie hat schon alle 22er-Weine verkauft. (© D. Gut)
Was hat Sie motiviert, mit den Baumreben «Los Arbolitos» zu arbeiten?
María José Granier: Ich kam zu diesem Ort auf Einladung von Cees Van Casteren, ein Freund und Master of Wine, der schon seit einiger Zeit in Bolivien unterwegs war, um den bolivianischen Weinsektor zu unterstützen. Um diesen noch besser zu machen, beschloss er, alle Ecken und Winkel zu erkunden, in denen es Reben und Wein gibt. Eines Tages schickte er mir eine Nachricht und versprach mir, dass ich mich in diesen Ort verlieben würde. Ein paar Monate später besuchte ich San Roque und es war tatsächlich Liebe auf den ersten Blick. Im Jahr 2019 haben wir zum ersten Mal Trauben geerntet und 2021 begannen wir, mit weiteren örtlichen Produzierenden zusammenzuarbeiten. Gemeinsam mit meiner Schwester Mercedes haben wir uns zum Lebensziel gesetzt, die hiesige, Jahrhunderte alte Kultur der Baum-Weingärten mit den wurzelechten, unveredelten Reben zu erhalten. Die Boutique-Weinmarke «Jardín Oculto» soll dabei helfen, uns zu profilieren.
Was ist Ihr Geschäftsplan?
San Roque ist der älteste dieser Gärten und seit Generationen im Besitz der Familie Enrique Gonzalez. Hier, wie bei den anderen beiden Gärten Los Membrillos und Molle Pampa, kaufen wir den Winzerinnen und Winzern das Traubengut zu fairen und höheren Marktpreisen als regional üblich ab. Insgesamt sind es sechs Hektar. Wir sind hier in einer sehr armen Gegend mit wenig Möglichkeiten für bezahlte Erwerbsarbeit. Mit dem Ankauf der Trauben sichern wir vielen ein geregeltes Einkommen und schaffen die Grundlage, um die Gärten zu pflegen. Die meisten Winzerfamilien der Baum-Weingärten sind überaltert. Es besteht die Gefahr, dass die Gärten in der heutigen Form verschwinden. Dies möchten wir verhindern.
Gibt es eine Erklärung für die Resistenz der Trauben gegen die klimatischen Einflüsse?
Das Cinti-Tal, in dem die Baumreben wachsen, ist ein sehr trockenes Tal. Es ist für seinen herrlichen Colorado Canyon (rotes Gestein) bekannt. In diesem Tal gibt es nur dank des Flusses, der durch die Schlucht fliesst, Leben. Das Cinti-Tal erhält über einen Zeitraum von drei Monaten (Sommer) etwa 300 Milliliter Wasser pro Jahr. Aus diesem Grund werden Reben im Cinti-Tal auf sandigen Böden in Flussnähe gepflanzt. Die Baum-Weingärten liegen nur wenige Meter über dem normalen Niveau des Rio Grande. Während der Regenzeit ab Oktober bis März werden die Kulturflächen phasenweise unter Wasser gesetzt und der Boden wird mit neuen Mineralien durchflutet. Dabei mindern die Bäume die Erosion. Zugleich findet eine Bodenerneuerung mit dem Eintrag organischer Substanzen statt, was das Ausbreiten von Krankheiten und Schädlingen wie die Reblaus verhindert. Ein weiterer Grund, dass die Reben sehr gesund sind, liegt am Umstand, dass sich die Baum-Weingärten weit weg von konventionellen Anlagen befinden, also lokal isoliert sind. Das über längere Zeit stehende Wasser hat aber den Nachteil, dass Mehltau die Reben befällt. Der einzige Chemieeinsatz ist ein zweimaliges Spritzen. Ansonsten wird in diesen Baum-Weingärten auf Chemie verzichtet. Was genau die Gesundheit der Pflanzen ausmacht, ist noch wenig erforscht. Die Höhenlage, der Agroforst und die Wurzelechtheit sind sicher entscheidende Faktoren.
Gibt es genetische Untersuchungen, deren Ergebnisse interessant für die Züchtung sein könnten? Hat man schon europäische Sorten eingekreuzt?
Die einzigen genetischen Studien, die wir durchgeführt haben, dienten der Identifizierung der Sorten. Derzeit ist uns nicht bekannt, dass diese «kreolischen» Sorten mit z. B. französischen Sorten gekreuzt wurden. Wir sind aber daran, die Genetik der Reben näher zu klären, um auch das effektive Alter derselben zu kennen.
Ihre Weine sind immer wieder im Gespräch. Wie schafften Sie es, dass Winzer aus aller Welt zu Ihnen nach San Roque kommen?
Der international bekannte Winemaker und Önologe Nayan Gowda arbeitet seit vier Jahren mit uns. Zusammen mit meiner Schwester ist er für die Weinqualität verantwortlich. Nayan kennt die Szene weltweit und hat viele Kontakte. Wir waren letztes Jahr mit unseren Weinen in Turin an der Messe «Salone Internazionale del Gusto e Terra Madre» eingeladen. Dabei hatte ich die Gelegenheit, an einer Podiumsdiskussion über den Agroforst-Weinbau teilzunehmen. So spannt sich unser Netzwerk immer weiter. Ende Februar kam wiederum eine Gruppe internationaler Winzer in San Roque vorbei. Es waren Studierende, die den Hochschulstudiengang «OIV Master of Science in Wine Management» absolvieren. Dabei durften wir ihnen unsere Weine präsentieren. Hierbei stellten wir fest, dass das Thema Agroforst bei vielen auf der Agenda steht. Der Vertreter des Weinguts Juris aus Österreich versicherte uns, dass er bis in zehn Jahren ebenfalls einen Agroforst-Garten haben werde. Diese Aussagen und andere wohlwollende Voten bestärken uns in unserem Bestreben, eine alte Kultur wieder aufleben zu lassen und zu pflegen.
Was müssen Sie bei der Verarbeitung der Trauben beachten?
Der genaue Erntezeitpunkt hängt wie überall von der phänologischen Reife ab und wird anhand der Zucker- resp. der pH-Werte der Traube bestimmt. Dabei braucht es viel Erfahrung, denn die Probenahme in den Bäumen variiert je nach Höhe über dem Boden. Für unsere Ernte engagieren wir lokale Helfer. Diese verpflegen wir und bezahlen einen überdurchschnittlichen Stundenlohn. Somit bleiben uns die Erntehelfer treu und wir haben keine Mühe mit der Rekrutierung.
Zudem helfen sie uns auch bei der Vermostung der Trauben. Gemessen an europäischen Verhältnissen ist die Handarbeit billig. Für Bolivianerinnen und Bolivianer aber ein willkommener Verdienst (Abb. 2).
Abb. 2: Erntedankfest in Villa Abecia. (© D. Gut)
Läuft die Gärung von Baumtrauben anders ab als bei herkömmlichen Trauben?
Nein, wir haben keine höhenbedingten Unterschiede im Fermentationsprozess festgestellt, diese Frage ist aber sehr interessant. Es scheint mir, dass es etwas ist, das untersucht werden muss. Um die frische Frucht und die Aromen in den Weinen zu bewahren, arbeiten wir mit mittleren Temperaturen der Moste, sodass die Gärung länger dauert. Um bittere Tannine zu vermeiden, kontrollieren wir die Gärung sehr sorgfältig. Für das Design der Marke «Jardín Oculto» ist es uns wichtig, dass neben der Pflege der alten Traubensorten weitgehend auch altes Handwerk zum Zuge kommt. Die Negra Criolla wird von Hand entrappt und direkt in den ungekühlten Gärtank gefüllt. Für Europäer ist diese Arbeit sicher fremd. Wie bereits aber erwähnt, legen wir Wert auf lokale Arbeit und dass viele Leute einen Verdienst im Tal finden.
Welche Marktstellung hat Bolivien gegenüber seinen Nachbarn Chile und Argentinien?
Bolivien ist nicht unbedingt als Weinregion bekannt. So beträgt die Jahresproduktion lediglich 2 % derjenigen von Argentinien. Rund die Hälfte der Trauben wird zur Herstellung des Nationalschnapses Singani verwendet. Die eigentliche Hochburg der Weinproduktion ist in der Gegend von Tarija. Rund ein Dutzend Weingüter machen etwa 70 % der Gesamtproduktion aus. Über 600 kleine Familienbetriebe sichern sich im Rebbau eine bescheidene Existenz. In den herkömmlichen Weingütern erfolgt die Ernte grösstenteils maschinell. Auf denen findet man vor allem die Sorten Pinot noir, Tannat, Malbec, Muscatel, Cabernet Sauvignon, Syrah, Merlot und andere mehr. Die grossen Kellereien wie Kuhlmann, Kohlberg, La Concepción, Campos de Solana und Casa Real haben moderne, meistens europäische Kellereitechnik. Gemessen an seinen Nachbarn wird Bolivien aber immer ein kleiner Weinproduzent mit Nischenprodukten bleiben.
– David Gut