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Andreas Stössel – 
der aufrechte «Terroirist»

Seit seinem Önologieabschluss in Wädenswil vor 31 Jahren arbeitet Andreas Stössel 
als Weinmacher. Seit elf Jahren pendelt der Zürcher zwischen 
Heerbrugg (SG) und Rapperswil und kümmert sich um die beiden Weingüter von 
Thomas Schmidheiny. Speziell fasziniert ihn das Terroir.

Artikel von:
Markus Matzner
Chefredaktor O+W
Diesen Artikel finden Sie in der Ausgabe 03 / 2023 , S. 14

Mit einem verschmitzten Lächeln schenkt er den gelblich-grün schimmernden Wein ein und beobachtet genau, wie seine Gäste die Gläser zur Nase führen, sanft daran schnuppern, ehe sie sich einen Schluck einverleiben und anerkennend nicken. Er kennt die Reaktion. Sein «Johann» weiss stets zu gefallen. Hergestellt aus der einzigen Piwi-Sorte, die im Weingut Höcklistein (Einstiegsbild) am St. Gallischen Ufer des Zürichsees angebaut wird, dem Johanniter. Und im Sog des angenehmen Abgangs dieses fruchtigen Weins beginnt Andreas Stössel zu erzählen. «Grundsätzlich habe ich nichts gegen Piwi-Sorten, im Gegenteil», sagt er mit seiner sanften, zürcherisch geprägten Stimme, doch man ahnt als Zuhörer sofort, dass ein «Aber» kommen wird. Stattdessen erklärt er den Herstellungsprozess dieses Weins: spätestens bei 90  °Oechsle geerntet, lieber zu früh als zu spät reingenommen, spontan vergoren, im Edelstahl ausgebaut. Das Ziel sei ein mineralischer und finessenreicher Terroirwein, der am Ende für 20 Franken über den Ladentisch gehe. Wir nicken erneut. Dann kommt das Aber, jedoch nicht direkt, sondern eher à la mode de Andreas, wie wir bald bemerken: kulant verpackt und mit Differenzierung. «Wein ist Image», meint er, «aber eine Piwi-Sorte ist halt nicht so profiliert wie eine europäische.» Dem würden wohl viele Piwi-Winzer widersprechen, wenden wir ein und erhalten als Antwort die Einladung, das Portfolio der Höcklistein-Weine zu betrachten. Wir blicken auf die Weinauslage in dieser umgebauten Scheune, die nun ein edles Weingeschäft mitsamt Eventlokal ist. Da liegen alle Geschöpfe des Weinguts sowie der anderen Domänen, die im Besitz von Thomas Schmidheiny sind. Schmidheiny? Ja, da klingelt es wohl den Älteren noch in den Ohren. Wie eine kurze Internet-Recherche belegt, ist diese Dynastie wie gemacht für einen Roman. Mit Zement sehr reich geworden, dann mit dem asbesthaltigen Eternit arg in die Schlagzeilen geraten, waren Schmidheinys während vieler Jahrzehnte Dauergast in den Medien. Der 1945 in Balgach (SG) geborene Thomas Schmidheiny, der u.a. auch Hauptaktionär des Grand Resort Bad Ragaz ist, trat in den letzten Jahren als Förderer junger Wirtschaftstalente, als Mäzen und Kunstsammler auf. Nebenbei betreibt er mehrere Weingüter. Eines in Argentinien, eines im Napa Valley (USA) und zwei in der Schweiz: das Weingut Schmidheiny in Heerbrugg (SG) und das Höcklistein in Rapperswil.

Freie Hand

Angesprochen auf seinen Chef, grinst Andreas Stössel. Damals, als er den Job annahm, hatte er zwanzig Jahre in der Toskana gelebt und gearbeitet. Die ganze Schmidheiny-Geschichte war ihm deshalb gar nicht richtig vertraut gewesen, was aber kein Nachteil war, wie er freimütig einräumt. Sein Chef komme regelmässig aufs Weingut und Weinmachen sei für ihn eine Passion. Er sei ein Mensch, der sagt, was er denkt, dennoch lasse er dem Team freie Hand. Somit liegt es an Stössel, die Art der Bepflanzung, das Laubwandmanagement, die Terroirstrategie und alle weiteren önologischen Entscheidungen zu definieren. Die Weine, die in Heerbrugg und Rapperswil entstehen, sollen qualitativ überzeugen. Das wirtschaftliche Ziel eines Betriebsgewinns sei zweitrangig, fügt er wohlwissend an, dass er aus beruflicher Sicht gleichsam den Sechser mit Zusatzzahl gezogen hat.

 

Das Piwi-Problem

Zurück zum eingangs gestreiften Thema, wonach Piwi-Sorten trotz der zunehmend biodynamischen Ausrichtung des Weinguts keine Zukunft böten. «Eine gute Wertschöpfung ist unmöglich», nimmt Andreas Stössel den Faden wieder auf, «und ich habe noch nie einen Piwi-Wein gesehen, der vierzig Franken kostet.» Tatsächlich schlagen die meisten Höcklisteiner-Weine mit Preisen über 30 Franken zu Buche, der teuerste kostet 68 Franken. Sie seien aber auch zwei bis drei Jahre im Keller, bis sie verkauft werden, das kostet.

 

«Auch der Räuschling wird niemals internationale Anerkennung erhalten.»

 

«Um höherpreisige Weine verkaufen zu können», erklärt er weiter, «müssen sie einen Vergleichstest mit bereits hochgehandelten Sortengeschwistern bestehen. Ein Schweizer Chardonnay muss sich mit einem burgundischen messen können, auch ein Pinot oder Sauvignon muss international bestehen.» Und mit einer Pause des Bedauerns fügt er an: Ein Johanniter werde nie in diese Kreise kommen. Nicht, weil er schlecht wäre, sondern weil er schlicht keine internationale Ausstrahlung besitze. Umso erstaunlicher erscheint es uns dann, dass am Höcklistein gleich drei verschiedene Räuschling-Weine ausgebaut werden. Der Kellermeister nickt, als habe er die Frage erwartet: «Auch der Räuschling wird niemals internationale Anerkennung erhalten, dafür ist er spannend zu machen. Insbesondere, wenn man verschiedene Terroirs hat.» Er zeigt auf die Karte hinter dem Tresen: «Der einfachere Räuschling stammt von der Lage Egg, die ein paar Meter über der Zürcherstrasse nach Stäfa liegt. Hier dominiert lehmiger Moräneboden. Die Einzellage Äfenrain hingegen liegt etwas höher und profitiert von ihrem kalkhaltigen Nagelfluh-Terroir, das sich in einem ausgeprägten Feuerstein-Streichholz-Duft niederschlägt.» Die folgenden Weinproben beweisen genau, was er prophezeit hat. Der erste ist ein schöner «daily wine», der andere zeigt sich tiefgründig, komplex und sehr mineralisch. Eben «grosses Kino», wie auch die Weinzeitschrift Vinum kürzlich lobte und ihm den Titel «Schweizer Wein des Jahres 2022» verlieh.

 

 

Moderner Laden in alter Scheune: Höcklistein. (© O+W)

 

Der «Terroirist»

Wie kam es dazu, dass Andreas Stössel so sehr auf das Terroir fokussiert, wollen wir wissen. Es war die Toskana, die ihm das beibrachte, sagt er und lächelt, als würden vor seinem geistigen Auge die zwanzig Jahre, die er dort verbracht hatte, vorbeiziehen. «Eigentlich wollte ich damals nur Italienisch lernen», fügt er an. Doch aus dem Sprachkurs sei eine temporäre Anstellung auf einem Weingut geworden, das einem Deutschen gehörte. Immer wieder wurde die Zusammenarbeit um einen Monat verlängert, obschon er kaum was verdiente. So war es nicht verwunderlich, dass er sich umsah und mit der deutschen Familie Fuchs in Kontakt trat. Sie hatte von Giorgio Regni die Fattoria Valtellina abgekauft – ein Weingut, das beileibe nicht im Veltlin, sondern mitten in der Chianti-Classico-Region lag. 1993 begann Stössel seine Arbeit und er erhielt hier gleichsam den Schlüssel zum Verständnis des Terroirs. Wobei dieser Begriff, wie er gleich anfügt, nicht nur den Boden meint. Er schliesst auch die Wachstumsfaktoren, das Wasser, das Klima und die Mentalität der Leute, die da arbeiten, ein. Dank seiner innovativen Interpretation des Terroirgedankens wurde das Weingut in den folgenden Jahren zu einem Geheimtipp. Dabei blieb die Produktion überschaubar. Vom erfolgreichen Supertoskaner «Convivo» entstanden jährlich nur 7000 Flaschen. 2005 beendete der Zürcher das Abenteuer mit diesen, wie er es nennt, «Sturm- und Drang-Weinen» und wechselte zur Villa Trasqua (spezialisiert auf Chianti Classico), lebte in Siena und kaufte sich einen eigenen Fleck Erde in der aufstrebenden Weingegend Maremma: ein zwei Hektar grosses Gebiet, davon ein halbes Hektar bestockt. Doch die Pläne gingen 2010 sprichwörtlich in Rauch auf: So fiel der ganze Rebberg einem Feuer zum Opfer. Bis heute ist die Ursache unklar, man geht von Brandstiftung aus. Allerdings könnte es auch aus Versehen passiert sein, räumt Stössel ein. Dies habe ihn aber weniger geschmerzt als der Tod seines langjährigen Begleiters Zorro, ein beeindruckender, aber zahmer Schäfer-Rotweiler-Mischling, der ihn auf Tritt und Schritt folgte. Er wurde von einem Auto angefahren und musste eingeschläfert werden. Da sich zusätzlich familiäre Änderungen anbahnten – wenig später kam Sohn David auf die Welt – entschloss er sich, zusammen mit seiner deutschen Frau Ina, Italien den Rücken zuzukehren und wieder nördlich der Alpen zu arbeiten. Da kam das Angebot von Thomas Schmidheiny gerade recht. Nun pendelt Andreas Stössel von Deutschland aus nach Heerbrugg oder Rapperswil. Während des ersten Lockdowns war er einer von diesen bedauernswerten Menschen, die nur via Maschendrahtzaun mit den Liebsten kommunizieren konnten. Er auf der Schweizer Seite, Frau und Kind in Konstanz.

 

Verantwortlich für zwei Keller: Andreas Stössel. (© O+W)

 

Kein «Flying Winemaker»

In einem international ausgerichteten Weingut, das primär national agiert, dürfte es doch spannende Möglichkeiten geben, auch mal den Kolleginnen und Kollegen in Argentinien oder im Napa Valley über die Schultern zu schauen. So hätten wir gedacht. Doch Stössel verneint vehement. Er halte nichts vom Typus des «Flying Winemakers». Diese würden niemals das Wesen des Terroirs verstehen, sondern wendeten überall ihre Prinzipien gleich an, was letztlich uniforme Weine ergebe. Er aber möchte Weine mit Handschrift erzielen und meint im Ton gänzlicher Überzeugung: «Man kann nur dann optimal arbeiten, wenn man vor Ort lebt.» Erst dann lerne man die Reben zu lesen bzw. zu verstehen, sehe, ob sie Stresssymptome aufweisen und könne entsprechend handeln. Es ist unschwer zu sehen, dass die Frage der Nachhaltigkeit für Andreas Stössel elementar geworden ist. Wahrscheinlich beschäftigt ihn kaum ein anderes Thema derzeit mehr: Wie soll auf die Herausforderungen des Klimas reagiert werden, wenn gleichzeitig eine Reduktion der Pflanzenschutzmittel angestrebt wird? Immerhin hat er eine Antwort parat: «Wir verfolgen eine Art Low-Residue-Strategie, arbeiten nur bis zur Blüte systemisch, danach behandeln wir nur noch biologisch mit knapp 70 g Kupfer pro Hektar.» Zum Vergleich: 200 g gelten beim Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) als geringe Dosierung, bis 3 kg/Jahr sind erlaubt. Wie das funktionieren soll, fragen wir und Andreas Stössel erklärt, dass sie auf einer molekularen Ebene die Wirkstoffe austauschen würden. Das tönt doch schon ein bisschen wie Steiners Biodynamie und erklärt, warum das Höcklistein auch mit den biodynamisch arbeitenden Nachbarn auskommt. Mittels WhatsApp-Gruppe teile man sich gegenseitig mit, wann wer spritzen würde, dann können die Gemüsebauern ihre Felder abdecken, erklärt er.

Ernte 2022

Ein Umstand, den man vielleicht erst auf den zweiten Blick so richtig durchschaut, ist die Tatsache, dass am Höcklistein kein Verarbeitungskeller existiert. Mit anderen Worten muss jede Traube per Lastwagen nach Heerbrugg transportiert werden. Eine Wegstrecke von immerhin 90 Minuten Fahrzeit. «Wir verwenden 500-kg-Standen», erklärt Stössel und fügt an: «Das ist kein Problem.» Bei uns meldet sich sogleich der journalistische Reflex: 90 Minuten bei sengender Hitze kann doch nicht förderlich sein für einen hohen Qualitätsanspruch. Wieder lächelt der Angesprochene unseren Einwand weg, meint, die Kühlung sei kein Problem. Die Qualität des Ertrags sei entscheidend: «Wir sorgen dafür, dass keine faule Traube auf den Camion kommt.» Im Keller in Heerbrugg durchläuft das Traubengut dann eine Kaltmazeration von fünf Tagen, ehe es vergoren wird. «Wir streben an, aus jedem Most das Beste herauszuholen und sein Terroir zu betonen, schliesslich wird der Wein im Rebberg gemacht, nicht im Keller.» Wir staunen ein wenig ob dieser Aussage eines Kellermeisters, doch werden gleich aufgeklärt: Er habe die Erfahrungen aus der Toskana mitgebracht. Für ihn sei das Laubmanagement zentral. Im Jahr 2021, als es feucht und kühl war, hätten sie bei Merlot oder Chardonnay die Anzahl Trauben auf vier pro Stock reduziert, dafür die Laubwände höher stehen gelassen. «Wir können es uns erlauben, auf Ertrag zu verzichten», meint er fast entschuldigend. 2022 reduzierten sie die Anzahl Blätter pro Trieb auf sieben, liessen rund sieben Trauben pro Pflanze stehen. Dadurch verlangsamte sich der Reifungsprozess. «Wir erzielten eine gute Qualität bei relativ tiefen Säure- und Zuckerwerten», bilanziert er, greift nach seinem Glas Räuschling und schnuppert hinein. Über sein Gesicht legt sich eine fast schon meditative Zufriedenheit.

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