
«Behind every great man …»
Hermann Müller-Thurgau hätte sein riesiges Lebenswerk wohl nicht geschafft, wären hinter ihm nicht verlässliche Mitarbeiter gestanden. Der wohl wichtigste von ihnen hiess Heinrich Schellenberg (Einstiegsbild links). Als Leiter der Sektion «Weinbau und Kellerwirtschaft» weist er, wie sein Enkel Christian (Bild rechts) mit Hingabe recherchiert hat, eine ebenfalls spannende Biographie auf und darf als heimlicher Stiefvater der neuen Rebzüchtung gelten.

«Heinrich Schellenberg wurde am 23. Februar 1868 als Sohn der Eltern Heinrich Schellenberg (1839–1907) und der Anna Barbara Schmid (1841–1922) in Teufen als Bürger von Pfäffikon-Irgenhausen (ZH) geboren. Der Vater war Weber und so musste er ihm bereits in jungen Jahren in der Weberei helfen und gefertigte Stoffe nach St. Gallen bringen. Er fühlte sich jedoch früh zur Landwirtschaft hingezogen.»
Mit diesen Worten beginnen die von Christian Schellenberg über seinen Grossvater gesammelten Aufzeichnungen. Den Enkel treffen wir in einer gemütlichen Alterswohnung in Winterthur, um Aufnahmen für den Dokumentarfilm über Müller-Thurgau zu machen. (Der Film wird im Rahmen des Jubiläums am 21. August seine Weltpremiere feiern.) Erst kürzlich konnte Christian Schellenberg seinen 91. Geburtstag feiern, was zeigt, dass die Familie über gute Anlagen für ein langes Leben verfügt. Denn auch Heinrich erreichte sein 100. Lebensjahr. Enkel Christian kann sich, wie man es von rüstigen Rentnern gewohnt ist, erstaunlich gut an vergangene Anekdoten erinnern und erzählt sie mit Leidenschaft. Dabei, und das grenzt er sogleich ein, habe er seinen Grossvater als pensionierten Mann kennengelernt. Vom aktiven und weit herum bekannten Berater und Lehrer wisse er nur aus Erzählungen und schriftlichen Belegen. Tatsächlich hatte Heinrich Schellenberg Dutzende Artikel auch für unsere Zeitschrift verfasst, schrieb aber auch für namhafte Tageszeitungen. In der NZZ publizierte er einen fast schon hymnischen Artikel über Hermann Müller-Thurgau zu dessen 70. Geburtstag im Jahr 1920. Die Schweizerische Landwirtschaft könne sich glücklich schätzen, die Leitung ihrer Versuchsstation in so trefflichen Händen zu finden, schrieb er und fügte an: «Möge es Müller-Thurgau vergönnt sein, noch manches Jahr seinen Forschungen obzuliegen; möge ihm aber auch ein glücklicher Lebensabend beschieden sein.» Aus diesen Zeilen geht der grosse Respekt hervor, den die beiden wohl gegenseitig verspürten. Dabei hatte sich Schellenberg, wie historische Dokumente beweisen, sogar selbst um die Stelle des Direktors der neu zu gründenden Forschungsanstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau beworben, liess dann dem bekannten Thurgauer aber gerne den Vorrang. Tauchen wir aber noch tiefer in die Biographie des Zürchers ein:
«In der Familie wird überliefert, dass Sohn Heinrich durch ein Zeitungsinserat auf die Ausbildung zum Landwirt an der Landwirtschaftlichen Schule Strickhof aufmerksam wurde. Es ist glaubhaft, dass die Schule mit Inseraten um junge Leute warb. In den 1870er-Jahren besuchten teilweise nicht mehr als zwanzig Burschen die Schule. Um in die Landwirtschaftliche Schule Strickhof eintreten zu können, musste man das 15. Altersjahr zurückgelegt und einen guten Leumund haben. Die nötigen schulischen Vorkenntnisse und eine altersmässig körperliche Entwicklung waren ebenfalls Voraussetzung. Die Bewerber mussten sich einer Aufnahmeprüfung unterziehen. Ein vorgängiges Praktikum war nicht notwendig. Das Kurs- und Kostgeld betrug für Kantonsangehörige 200 Franken pro Wintersemester, der Sommerkurs war unentgeltlich.
Am Strickhof wurden seine Geistesgaben und Tüchtigkeit erkannt. Der Direktor des Strickhofes, Hauptmann Bertschinger aus Pfäffikon, wusste ihm ein Stipendium zum Besuch der Wein- und Obstbaufachschule in Klosterneuburg bei Wien zu verschaffen. Am 15. August 1887 hatte der Regierungsrat des Kantons Zürich, nach Einsicht eines Antrages der Direktion des Innern und der ihr beigeordneten Kommission für die Landwirtschaft, auf dem Zirkularweg beschlossen, folgendes Schreiben an das Schweiz. Landwirtschaftsdepartement zu richten: ‹Wir beehren uns, Ihnen hierauf Folgendes zur Kenntnis zu bringen: Unsere Kommission für Landwirtschaft hat beschlossen, dem Herrn Heinrich Schellenberg, von und in Pfäffikon, ein Reisestipendium von 400 Franken zum Besuch der K.K. önologischen und pomologischen Lehranstalt Klosterneuburg bei Wien zu verabreichen. Dem Bewerber ist ferner ein eidg. Stipendium von demselben Betrage wie das kantonale zugesichert worden. Die Auszahlung wird im Jahre 1888 erfolgen.›
1887/88 absolvierte HS, wie man Heinrich Schellenberg intern nannte, in der Obst-und Weinbauschule Klosterneuburg eine Ausbildung zum Weinfachmann. Der Schule stand August Wilhelm Reichsfreiherr von Babo als Direktor vor. Von Babo war ein grosser Förderer des Weinbaus, und er entwickelte die Klosterneuburger Mostwaage, die heute noch zur Messung des Zuckergehaltes im Most verwendet wird. HS beendete seine Ausbildung zusammen mit 18 Teilnehmern am 26. Juli 1888. Ein umfassendes Zeugnis gibt über die Ausbildung in den verschiedenen Bereichen Auskunft. In den Fächern Weinbau, Obstbau, Landwirtschaft und Gartenbau hatte er immer die Bestnote 1. Die theoretischen Fächer wie Mathematik, Physik und Chemie schloss HS mit den Noten 1 und 2 ab. Die naturgeschichtlichen Fächer und die praktischen Übungen schloss er wieder mit Note 1 ab.
Da HS kein Geld hatte, ging er zu Fuss nach Klosterneuburg. Zum Stipendium gehörte nur eine warme Mahlzeit. Die Klosterschwestern hatten jedoch oft Erbarmen, und er erhielt mehr. Um seine Ausbildung zu vervollständigen, besuchte HS 1888/90 die Landwirtschaftliche Landeslehranstalt St. Michele an der Etsch (heutiges Südtirol). Die Schule wurde vom lombardo-venezianischen Önologen Edmund Mach geleitet. Vor seiner Berufung als Gründungsdirektor (1874) war Edmund Mach Assistent in Klosterneuburg. Die beiden sehr angesehenen Lehrer Wilhelm von Babo und Edmund Mach hatten einen grossen Einfluss auf seine Ausbildung zum Obst- und Weingärtner. Es wird überliefert, dass HS bei seiner Anreise nach San Michele in Bevers bei seinem Freund Ruffner Halt machte. Dieser wollte ihm für die Weiterreise über den Ofenpass ein Gewehr mitgeben, um sich vor Angriffen durch Bären zu schützen, was er jedoch ablehnte.»
Die Klasse von 1896 vor dem Wädenswiler Schloss. Vorne Mitte: Hermann Müller-Thurgau, rechts von ihm Heinrich Schellenberg. (© Weinbaumuseum Au)
Knacknuss Riesling x Sylvaner
Wie Enkel Christian berichtet, war es für das Team um Müller-Thurgau recht herausfordernd, in Sachen Riesling x Sylvaner vorwärtszukommen. Anscheinend galt es immer wieder, Rückschläge zu verkraften. Immerhin verstand sich Schellenberg ausserordentlich gut mit dem «Herrn Professor», sodass dieser ihm viel Verantwortung übertrug. Das hatte auch alltägliche Gründe. Wie Müller-Thurgau in einem späteren Brief schrieb, musste das marode Schloss Wädenswil zuerst instand gesetzt, das Land bestellt und die Schule aufgebaut werden. Das hatte den fleissigen Thurgauer arg beschäftigt. Enkel Schellenberg beschrieb, wie es mit dem Riesling x Sylvaner dennoch weiterging:
«Die 150 Rebstecklinge wurden ins Treibbeet eingelegt und dann 1892 und 1893 in die Rebschule ausgepflanzt. 1894 erfolgte die Umpflanzung mit einer Reduktion auf 73 Nummern. Die als gut befundenen Nummern wurden vegetativ vermehrt und die so erhaltenen Klone weiter geprüft, wobei schon kleine Mengen an Wein erzeugt wurden, die beurteilt werden konnten. Um eine Selektion vornehmen zu können, war es wichtig, Weine zu gewinnen und diese unter normalen Bedingungen zu beobachten. 1906 wurden erstmals so viele Trauben geerntet, dass aus denselben ein 50-Liter-Fässchen gefüllt werden konnte. Ab dem Jahre 1913 betrug die Ernte über 300 Liter. In dieser Prüfungsstufe zeigte der Klon, ausgehend vom Sämling Nr. 58, besonders hervorstechende Eigenschaften. Insbesondere wurde festgestellt, dass er robust war, gute Wuchseigenschaften und grosse Fruchtbarkeit aufwies und die Trauben wesentlich früher reif waren als bei den beiden Elternsorten. Der Wein wurde als fruchtig, bekömmlich, süffig und mit hervorragendem Bukett beurteilt. HS, so wird berichtet, sei ein ausgezeichneter Degustator gewesen, mit einem phänomenalen Geruchs- und Geschmacksgedächtnis. Dies sei so weit gegangen, dass er sagen konnte: ‹Dieser Wein stamme weder von Stäfa noch von Männedorf, er müsse auf der Grenze gewachsen sein.›»
Handschriftliche Einträge von Heinrich Schellenberg in seinem Zuchtbuch. (© Weinbaumuseum Au)
Rückschläge
Wie erwähnt, pflasterten Rückschläge die Entwicklung der neuen Sorte. Dennoch blieb Schellenberg an der Sache dran, obschon – wie der Enkel vor der Kamera berichtet – der Chef eigentlich den Übungsabbruch verordnet hatte. Anscheinend trieb HS also zumindest für eine gewisse Zeit die Studien heimlich weiter. Mit Erfolg. In einem Artikel, der 1926 in der SZOW erschien, fasste Schellenberg die Sache folgendermassen zusammen: «Nach 1908 wurde mit der Abgabe von Stecklingen nach auswärts begonnen. Nach 1913 und 1914 erfolgten die ersten Anlagen kleiner Parzellen veredelter RxS in Remigen (Aargau) und Rheinau. Ab 1913 gibt die Versuchsanstalt alljährlich eine immer grössere Zahl von Edelreisern resp. von veredelten Reben ab. Von der Versuchsanstalt wurden bis 1926 über 22 000 auf verschiedene amerikanische Unterlagen veredelte Reben und eine sehr bedeutende Menge von Edelreisern an Rebbesitzer fast aller weinbautreibenden Kantone und in beschränktem Umfang auch ins Ausland abgegeben. Sehr bedeutend ist die Vermehrung, die seit einer Reihe von Jahren durch andere Rebschulen eingesetzt hatte, so vom Arenenberg und den aargauischen Weinbaugenossenschaften. Die Nachfrage von Seiten Westschweizerischer Rebschulbesitzer nach Rebholz beweist, dass auch dort die Rebe grosse Beachtung findet. HS pflegte einen intensiven Kontakt mit den Rebschulen und Rebbesitzern. Deren Erfahrungen wertete er minutiös aus, zog daraus Schlüsse und gab entsprechende Empfehlungen ab.»
Ein Erfahrungsbericht aus dem Aargau (Autor: G. Schobinger aus Brugg) meldete Schellenberg Folgendes zurück:
- Die Trauben können Jahr für Jahr völlig ausreifen.
- Es werden Moste mit verhältnismässig hohen Oechslegraden erzielt.
- Die Qualität können wir dem Wein, trotz dem etwas stark hervortretenden Sorten-Bouquet, nicht absprechen. Es ist auf keinen Fall etwas Abstossendes, sondern für uns etwas Neues.
- Der Wein ist früh konsumfähig.
- Der RxS zeigt eine dritte wertvolle Eigenschaft: rasche Entwicklung und grosse Fruchtbarkeit.
Namensstreit
Heinrich Schellenberg, gleichsam der Stiefvater der Neuzüchtung, dürfte gemäss seinem Enkel durchschaut haben, dass die Namensbezeichnung Riesling x Sylvaner des Urstocks unzutreffend war. Denn er züchtete ja alle Varianten, die er von seinem Chef bekommen hatte, nach und wird logischerweise bemerkt haben, dass die Kreuzung mit der unbekannten Madeleine Royale die besten Eigenschaften zeitigte. Ob der loyale Schellenberg dieses «Geheimnis» aber seinem Chef verraten hatte, ist nicht bekannt. Lediglich eine handschriftliche Notiz seitens Müller-Thurgaus gibt Aufschluss, dass der Chef auch selbst gewisse Zweifel hegte. Dies wird Historikerin Mariska Beirne in ihrem Artikel aufzeigen, der in Heft 10/11 (Sondernummer) erscheinen wird.
Zuchtbuch von Müller-Thurgau: Madeleine Royale wird deutlich erwähnt. (© Weinbaumuseum Au)
So oder so: Spätestens in den 1990er- und Einerjahren des neuen Jahrtausends wurde klar, dass die Bezeichnung Riesling x Sylvaner unzutreffend, d. h. irreführend ist. In der SZOW 16/1997 fassten Walter Müller und Werner Koblet die Sachlage so zusammen: «Die Eidgenössische Forschungsanstalt Wädenswil ist die ‹Besitzerin› der Rebsorte ‹Riesling x Silvaner›, weil Müller-Thurgau zur Zeit der Herausgabe hier arbeitete. Daher wurden das Bundesamt für Landwirtschaft, der Regierungsrat des Kantons Thurgau sowie einschlägige Verbände über die Situation orientiert und angefragt, welcher Name fortan benutzt werden soll. Die Antworten sind uneinheitlich ausgefallen. Einerseits wird der Name ‹Müller-Thurgau› sehr begrüsst, aus verständlichen Gründen insbesondere von den Thurgauern selbst. In weiteren Kreisen wurde der Name ‹Rivaner› diskutiert.»
Tatsächlich ist bis heute in der Schweiz keine einheitliche Bezeichnung im Umlauf. Der Name Riesling-Silvaner (ohne das Kreuzungszeichen x, dafür mit Bindestrich und manchmal mit y geschrieben) ist weitverbreitet, obschon er im Grunde genommen falsch ist. Der Name Rivaner ist eher rückläufig, wird beispielsweise in Luxemburg häufiger benützt. Einzig für die Thurgauer Winzer ist die Sache klar: Sie benützen unisono den Namen des Züchters. Angesichts des Umstandes, dass die restliche Welt ebenfalls seit geraumer Zeit den Namen Müller-Thurgau benutzt, wäre es auch für die Schweiz – nicht zuletzt zu Ehren des Lebenswerkes des Züchters und dessen Nachfolger – langsam an der Zeit, alte Zöpfe abzuschneiden. Heinrich Schellenberg wäre sicher dafür gewesen (wohl auch, weil er die Hintergründe kannte).