Mut zur Säure

Der Klimawandel wird selbst von Verschwörungstheoretikern nicht mehr grundsätzlich angezweifelt. Zu klar sind die Zeichen. Nur schon in unserem kleinen Land zeigt sich indes, dass die Auswirkungen je nach Lage und Höhe unterschiedlich ausfallen. Dennoch wird ein Faktor für Winzer landauf, landab immer wichtiger: die Säure. Auf den folgenden Seiten soll diesem Aspekt die nötige Aufmerksamkeit geschenkt werden.


Autor_Matzner Markus
Markus Matzner
Chefredaktor Fachzeitschrift Obst- und Weinbau

Säure ist neben Süsse und Bitterkeit eine der ersten geschmacklichen Erfahrungen, die ein Mensch macht. Kinder lieben Süsses, Bitteres verabscheuen sie, bei der Säure aber entwickelt sich schon bald eine Art Hass-Liebe. So stopfen sich bereits mutige Kindergärtler saure «Drops» in den Rachen, um die merkwürdige Empfindung auszukosten oder wagen sich einer Mutprobe gleich an den Zitronenschnitz, der in der Cola schwimmt. Und diese Ambivalenz rund um die Säure bleibt bestehen. Besonders augenfällig – besser müsste man wohl sagen «zungenfällig» – ist die Geschichte beim Wein. Hier spielen die Säuren eine Hauptrolle und werden zum Antagonisten des Zuckers, der sich während der Reifung als Verstoffwechslungsprodukt bildet. Und während die Früchte süsser werden, tut sich Unterschiedliches bei den Säuren. Wie Marie Blackford in ihrem Artikel «Säureentwicklung im Zeichen des Klimawandels» zeigt, baut sich der Gehalt an Äpfelsäure nach der Véraison (dem Farbumschlag) ab. Nicht abgebaut wird hingegen der Gehalt an Weinsäure, der sich gebildet hat.

Dass bei diesen komplexen Zusammenhängen grosse Verwirrung herrscht, zeigt sich beispielhaft im Internet. Selbst der Materie zugewandte Weinportale wie z.B. weinkenner.de schreiben dann Dinge wie: «Im Wein sind vor allem zwei Säuren anzutreffen: die Wein- und die Äpfelsäure. Die Weinsäure (Trauben sind die einzigen Früchte, in denen diese Säure vorkommt) ist eine weiche, angenehm schmeckende und deshalb hochwillkommene Säure. Die Äpfelsäure ist dagegen eine aggressive Säure.»

Nicht gänzlich falsch, aber auch nicht richtig. Erstens wird Weinsäure sehr wohl auch in vielen anderen Früchten gebildet. Zweitens schmecken alle Säuren gleich: nämlich sauer. Dies beschreibt Volker Schneider im Artikel «Säuren und Säuerung in Most und Wein». Selbst geschulten Verkostern gelang es bislang nicht, die genannten Säuren geschmacklich auseinanderzuhalten. Der einzige Unterschied liegt in ihrer Säurestärke. So ist Äpfelsäure pro Gramm schlicht saurer als Weinsäure, was man auch im Umgang mit ihnen berücksichtigen muss.
 

Ab 2003 wurde alles anders

Das Jahr 2003 war wohl so etwas wie die «Hebamme» für eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema der Säuren im Wein. Wie wir uns noch bestens erinnern, erreichten die Trauben selbst in sogenannten «Cool-Climate-Zonen», zu denen auch die Länder nördlich der Alpen gezählt werden können, maximale Oechslewerte. Das liess nicht nur die Alkoholwerte ansteigen, sondern erzeugte auch plumpe Weine, weil die Säure fehlte. Spätestens damals wurde klar, dass die Klimaerwärmung Schicksal und Chance sein kann. Basierend auf der Tatsache, dass die Äpfelsäure auch in warmen Nächten abgebaut wird, profitierten die Rotweine. Weissweine hingegen verlangen ein radikal anderes Management, um ein genügendes Mass an Säure zu behalten und dennoch die Reife zu erreichen. Denn unreifes Traubengut zu ernten, ist keine Lösung, um die Säureproblematik zu umschiffen.
 

Titrierbare Gesamtsäure vs. pH-Wert

Bei der Betrachtung der Zusammenhänge rückt ein weiterer Faktor in den Vordergrund, der nicht unwesentlich ist: nämlich der pH-Wert. Bekanntlich sind der pH-Wert und das Mass der titrierbaren Gesamtsäure nicht dasselbe. Während ersterer vereinfacht ausgedrückt das Mass für die Stärke der sauren (oder basischen) Wirkung einer wässrigen Lösung beschreibt, bezeichnet die titrierbare Gesamtsäure die Konzentration aller titrierbaren Säuren, die mit der Bezeichnung Weinsäure in Gramm pro Liter ausgedrückt wird. Somit gilt: Wer die Klaviatur der Säuren beherrscht, wird trotz des Klimawandels mit seinen Weinen zu gefallen wissen.

Titelbild

©Siffert/weinweltfoto.ch


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